Nina Vogt-Østli (2014)
Gleich zu Beginn weise ich darauf hin, dass
diese Rezension ein SPOILER ist! Das heißt, der Ausgang des Buches wird
verraten. Wer sich lieber überraschen lassen will, sollte nur bis zum Link lesen. Normalerweise versuche ich, das Ende eines Buches
nicht zu verraten, doch in diesem Fall scheint es mir von Bedeutung zu sein.
Meine Neugier auf Der Tag wird kommen hätte größer kaum sein können. Auf meinem Tisch im Konferenzzimmer lagen eine Leseprobe des Verlages und der Hinweis, das Buch sei neu für die Schulbibliothek angeschafft worden. Das Cover und der Klappentext haben mich gereizt, aber auch gleich konkrete Erwartungen in mir geweckt:
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Quelle: www.coppenrath.de
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"Das Leben ist hart, wenn du ganz unten
bist. Wenn deine Mutter keine Zeit für dich hat. Wenn dein Vater wünscht, du
wärst nie geboren worden. Wenn der mieseste Schlägertyp der Schule dich auf
seiner Abschussliste hat. Wenn sie auf dich eindreschen, Tag für Tag, bis du
wie ein zitternder Haufen im Dreck liegst. Doch eines Tages können sie sich
nicht mehr zusammenrotten - und dann bist du am Zug. Eines Tages werden sie
sehen, wer du wirklich bist, was du wirklich kannst, Wozu du fähig bist. Aber
bis es so weit ist, musst du überleben."
Darunter steht in roter Schrift:
"Nach Janne Tellers Nichts ein neuer beeindruckender Jugendroman aus Skandinavien - ein
erschreckendes Gedankenspiel, das einen so schnell nicht wieder loslässt."
Im Rahmen der Autoreninfo über Nina Vogt-Østli
findet sich außerdem die Informationen: "'Der Tag wird kommen' ist ihr
erster Jugendroman und entstand noch vor den Breivik-Attentaten in
Norwegen."
Die Lektüre hat mich vorerst enttäuscht. So
hart wie Cover und Klappentext vermuten lassen, ist der Inhalt nicht.
Der Protagonist, Hans Petter (sic!), ist ein
15-jähriger Schüler. Seit seiner Kindheit wird er von seinem Klassenkameraden
Andreas schikaniert. In der Unterstufe hat er noch versucht, sich gegen das
Mobbing zu wehren. Hans Petters Mutter June stieg auf die Barrikaden, hat
Lehrer und Eltern eingeschaltet und so versucht, dem Leiden ihres Sohnes ein
Ende zu setzen. Doch dieser musste erkennen, dass all das Andreas und seine
Freunde nur noch mehr angespornt hat. Nun ist Hans Petter in der
"Mittelstufe", die er nach diesem Schuljahr beenden wird. Er hat gelernt,
sich möglichst unsichtbar zu machen, bloß nicht aufzufallen. So hofft er
möglichst uninteressant für seine Angreifer zu sein. Das hat auch einigermaßen
funktioniert - bis sein Vertrauenslehrer Gunnar ihn zum Treffen einer
"Projektgruppe" einlädt, und das auch noch vor der ganzen Klasse.
Durch die vermeintliche Gunst des Lehrers wird
Hans Petter wieder zum beliebten Opfer von Drohungen, weshalb er versucht,
seinen Peinigern aus dem Weg zu gehen und hofft, nicht auf dem Heimweg
abgefangen zu werden. Ironischerweise ist die von Gunnar gegründete
"Projektgruppe" eine Ansammlung von Schülern, die er auf Grund ihrer
Außenseiterrolle ausgewählt hat, um ihnen ein Forum zu bieten und sie bei der
Selbsthilfe zu unterstützen. Der Lehrer meint, seinen Schülern dadurch helfen
zu können, macht sich in ihren Augen damit aber eher lächerlich, da er dadurch
für sie offenbar macht, dass er das Ausmaß des Mobbings nicht überschauen kann.
Soziale Kontakte hat Hans Petter kaum. Die
Mitschüler ziehen es vor, ihn zu meiden, schließlich will niemand selbst zur
Zielscheibe von Gemeinheiten werden. Zu Hause vertieft sich der 15-Jährige sich
in die Welt eines Computerspiels und verbringt die Abende mit seiner Mutter vor
dem Fernseher, was er angesichts der Situation in der Schule genießt. Er ist
überzeugt, intelligenter als alle anderen zu sein, selbst seine eigene Mutter
betrachtet er als einfältig.
Eines Tages wird Hans Petter von einer
Unbekannten angechattet. Ihr Name ist Fera und sie scheint ihn zu kennen. Das
lässt bei Hans Petter natürlich alle Alarmglocken klingeln, vor allem als Fera
ihn nach Andreas Strømme fragt. Doch wie sich herausstellt, ist das Mädchen
ungefährlich. Sie ist im gleichen Alter wie Hans Petter und die beiden
verstehen sich nicht schlecht, doch Fera scheint verrückt zu sein: Sie
behauptet, in der Zukunft zu leben, in Zeit, nachdem die Menschheit sich durch
einen Krieg beinahe selbst ausgelöscht hat. Darüber kann der Schüler jedoch
hinwegsehen. Die Freude, jemanden gefunden zu haben, mit dem er offen reden
kann, überwiegt und er spielt dieses Spiel eine ganze Weile mit. Die Gespräche
mit Fera lassen ihn seine Probleme zeitweise vergessen. Sie bestärken ihn sogar
in dem Vorhaben, Andreas' Gewaltherrschaft ein Ende zu setzen und es gelingt
ihm, den Schlägertypen beim liebevollen Schmusen mit einem Kätzchen zu filmen.
Doch das scheint Andreas nicht großartig zu beeindrucken und Hans Petters
Probleme sind damit nicht gelöst.
Stattdessen kommen
neue hinzu: June gesteht ihrem Sohn, dass sie und sein Lehrer Gunnar ein Paar
sind, sein Vater macht die unüberlegte Bemerkung, er sei immer noch verärgert
darüber, dass June sich nicht für eine Abtreibung entschieden und ihn so
ungefragt zum Vater gemacht habe - was er nie sein wollte. In seinen Gesprächen
mit Fera, dem geheimnisvollen Mädchen aus der Zukunft, spricht sich Hans Petter
Mut zu und eines Tages bricht es aus ihm heraus.
Der Tag wird
kommen bringt viele Themen ins Spiel: Erwachsenwerden,
Mobbing, Gewalt, die Probleme einer Patchwork-Familie. In Feras Berichten aus
der Zukunft geht es außerdem um den Umgang mit der Natur und den Mitmenschen,
um die ideale Gesellschaft und darum, was aus der Welt, in der Hans Petter lebt
(in der auch der Leser lebt) wird/wurde. Dabei ist der Erzählstil teilweise
sehr belehrend.
Der Protagonist Hans
Petter wirkt über weite Strecken unsympathisch und arrogant, was in seiner
Opferrolle teilweise unverständlich scheint.
Obwohl der Roman
weitgehend vorhersehbar wirkt, sollte man ihn in jedem Fall bis zum Ende lesen,
da erst dann sein eigentlicher Wert offenbar wird.
Doch die Vermutung,
Hans Petter werde in der Schule ein Blutbad anrichten, sich an Lehrern und
Schülern für seine Leiden rächen, bewahrheitet sich nicht. Vergeblich wartet
man auf die ach so vorhersehbare Rache an Andreas. Stattdessen lässt Hans
Petter seine aufgestaute Aggression an Gunnar aus: Als dieser ihn wieder einmal
vor der Klasse zum persönlichen Gespräch nach dem Unterricht einlädt, dreht der
Schüler den Spieß um und stellt den Freund seiner Mutter bloß. Auf's Unflätigste
beschimpft er ihn, fordert seine Mitschüler auf, auf ihre Mütter zu achten und
gibt ihm den Spitznamen "Pervo-Gunnar", der in der Schule bald in
aller Munde ist. Dieser Ausbruch bringt Hans Petter Andreas' Wohlwollen ein,
ohne darauf abgezielt zu haben. Der einstige Feind präsentiert sich nun als
Mitstreiter und Freund. Andreas stachelt Hans Petter noch am selben Tag zu
einer Schmier-Aktion im Konferenzzimmer an: "Pervo-Gunnar ist scharf auf
deine Mutter, deine Tochter und deine Hündin. Verrammelt die Türen und seid
wachsam!", schreibt er an ein Plakat, das Andreas dann an die Pinnwand
heftet.
Von da an leben die
beiden in einer fragwürdigen Symbiose. Andreas spielt sich als Freund auf,
nutzt Hans Petter jedoch im Grunde als Werkzeug aus, um den unliebsamen Lehrer Gunnar fertig zu
machen. Hans Petter hat das gleiche Ziel und fühlt sich durch Andreas endlich
stark genug. Während Andreas Gunnar erst verprügeln will, überzeugt Hans Petter
ihn schnell davon, den Freund seiner Mutter psychisch zu attackieren und sein
Leben zu ruinieren: Er will den Vertrauenslehrer als Pädophilen hinstellen und
ihn so zerstören. Bestärkt von Andreas und seinen Kumpels ist er es schließlich
auch, der die Tat durchführt, obwohl er dabei bereits an seiner Idee zweifelt.
Der Roman endet mit
einer E-Mail von Fera, der es inzwischen gelungen ist, Hans Petter davon zu
überzeugen, dass die Welt in der sie lebt, über 300 Jahre in der Zukunft liegt.
Sie gesteht ihrem Freund aus der Vergangenheit, dass sie ihn ganz bewusst kontaktiert
hat und eine Freundschaft mit ihm nie beabsichtigt war. Sie schreibt ihm, dass
der Diktator, der die Menschheit in seinem Krieg beinahe vernichten wird, er
ist und dass Andreas ihm dabei zur Macht verhelfen wird. Dann bricht sie den
Kontakt zu Hans Petter ab.
Erst im Anschluss an
die Lektüre lässt sich die eigentliche Handlung überblicken: Beschrieben wird
nicht ein Mobbing-Fall, sondern die Entwicklung einer Persönlichkeit - einer
Persönlichkeit, die in ihrer Grausamkeit so weit geht, den Planeten Erde
beinahe zu zerstören. Fera nennt den Diktator "ein[en] abgrundtief böse[n]
Mensch[en]" (S. 238), der Leser kann das Böse, das in Hans Petter
schlummert, nur erahnen. Wie verlockend diese Macht, die Fera ihm vorausgesagt
hat, für das ehemals gepeinigte Mobbing-Opfer ist, lässt Nina Vogt-Østli offen
und lässt somit Raum für Spekulationen, die sicher auch den Deutschunterricht
bereichern können.
"Ganz langsam
beginnt sich eine Ruhe in mir auszubreiten.
Ich weiß, wer ich
bin.
Ich habe Fera
verloren. Aber die Zukunft gehört mir." (S. 240)