Über mich

Ich bin immer auf der Suche nach Literatur, die jungen Menschen Lust auf's Lesen macht!

Freitag, 28. März 2014

Der Tag wird kommen

Nina Vogt-Østli (2014)



Gleich zu Beginn weise ich darauf hin, dass diese Rezension ein SPOILER ist! Das heißt, der Ausgang des Buches wird verraten. Wer sich lieber überraschen lassen will, sollte nur bis zum Link lesen. Normalerweise versuche ich, das Ende eines Buches nicht zu verraten, doch in diesem Fall scheint es mir von Bedeutung zu sein.

Meine Neugier auf Der Tag wird kommen hätte größer kaum sein können. Auf meinem Tisch im Konferenzzimmer lagen eine Leseprobe des Verlages und der Hinweis, das Buch sei neu für die Schulbibliothek angeschafft worden. Das Cover und der Klappentext haben mich gereizt, aber auch gleich konkrete Erwartungen in mir geweckt: 

Quelle: www.coppenrath.de
"Das Leben ist hart, wenn du ganz unten bist. Wenn deine Mutter keine Zeit für dich hat. Wenn dein Vater wünscht, du wärst nie geboren worden. Wenn der mieseste Schlägertyp der Schule dich auf seiner Abschussliste hat. Wenn sie auf dich eindreschen, Tag für Tag, bis du wie ein zitternder Haufen im Dreck liegst. Doch eines Tages können sie sich nicht mehr zusammenrotten - und dann bist du am Zug. Eines Tages werden sie sehen, wer du wirklich bist, was du wirklich kannst, Wozu du fähig bist. Aber bis es so weit ist, musst du überleben."

Darunter steht in roter Schrift:
"Nach Janne Tellers Nichts ein neuer beeindruckender Jugendroman aus Skandinavien - ein erschreckendes Gedankenspiel, das einen so schnell nicht wieder loslässt."

Im Rahmen der Autoreninfo über Nina Vogt-Østli findet sich außerdem die Informationen: "'Der Tag wird kommen' ist ihr erster Jugendroman und entstand noch vor den Breivik-Attentaten in Norwegen."



Die Lektüre hat mich vorerst enttäuscht. So hart wie Cover und Klappentext vermuten lassen, ist der Inhalt nicht.
Der Protagonist, Hans Petter (sic!), ist ein 15-jähriger Schüler. Seit seiner Kindheit wird er von seinem Klassenkameraden Andreas schikaniert. In der Unterstufe hat er noch versucht, sich gegen das Mobbing zu wehren. Hans Petters Mutter June stieg auf die Barrikaden, hat Lehrer und Eltern eingeschaltet und so versucht, dem Leiden ihres Sohnes ein Ende zu setzen. Doch dieser musste erkennen, dass all das Andreas und seine Freunde nur noch mehr angespornt hat. Nun ist Hans Petter in der "Mittelstufe", die er nach diesem Schuljahr beenden wird. Er hat gelernt, sich möglichst unsichtbar zu machen, bloß nicht aufzufallen. So hofft er möglichst uninteressant für seine Angreifer zu sein. Das hat auch einigermaßen funktioniert - bis sein Vertrauenslehrer Gunnar ihn zum Treffen einer "Projektgruppe" einlädt, und das auch noch vor der ganzen Klasse.
Durch die vermeintliche Gunst des Lehrers wird Hans Petter wieder zum beliebten Opfer von Drohungen, weshalb er versucht, seinen Peinigern aus dem Weg zu gehen und hofft, nicht auf dem Heimweg abgefangen zu werden. Ironischerweise ist die von Gunnar gegründete "Projektgruppe" eine Ansammlung von Schülern, die er auf Grund ihrer Außenseiterrolle ausgewählt hat, um ihnen ein Forum zu bieten und sie bei der Selbsthilfe zu unterstützen. Der Lehrer meint, seinen Schülern dadurch helfen zu können, macht sich in ihren Augen damit aber eher lächerlich, da er dadurch für sie offenbar macht, dass er das Ausmaß des Mobbings nicht überschauen kann.
Soziale Kontakte hat Hans Petter kaum. Die Mitschüler ziehen es vor, ihn zu meiden, schließlich will niemand selbst zur Zielscheibe von Gemeinheiten werden. Zu Hause vertieft sich der 15-Jährige sich in die Welt eines Computerspiels und verbringt die Abende mit seiner Mutter vor dem Fernseher, was er angesichts der Situation in der Schule genießt. Er ist überzeugt, intelligenter als alle anderen zu sein, selbst seine eigene Mutter betrachtet er als einfältig.

Eines Tages wird Hans Petter von einer Unbekannten angechattet. Ihr Name ist Fera und sie scheint ihn zu kennen. Das lässt bei Hans Petter natürlich alle Alarmglocken klingeln, vor allem als Fera ihn nach Andreas Strømme fragt. Doch wie sich herausstellt, ist das Mädchen ungefährlich. Sie ist im gleichen Alter wie Hans Petter und die beiden verstehen sich nicht schlecht, doch Fera scheint verrückt zu sein: Sie behauptet, in der Zukunft zu leben, in Zeit, nachdem die Menschheit sich durch einen Krieg beinahe selbst ausgelöscht hat. Darüber kann der Schüler jedoch hinwegsehen. Die Freude, jemanden gefunden zu haben, mit dem er offen reden kann, überwiegt und er spielt dieses Spiel eine ganze Weile mit. Die Gespräche mit Fera lassen ihn seine Probleme zeitweise vergessen. Sie bestärken ihn sogar in dem Vorhaben, Andreas' Gewaltherrschaft ein Ende zu setzen und es gelingt ihm, den Schlägertypen beim liebevollen Schmusen mit einem Kätzchen zu filmen. Doch das scheint Andreas nicht großartig zu beeindrucken und Hans Petters Probleme sind damit nicht gelöst.
Stattdessen kommen neue hinzu: June gesteht ihrem Sohn, dass sie und sein Lehrer Gunnar ein Paar sind, sein Vater macht die unüberlegte Bemerkung, er sei immer noch verärgert darüber, dass June sich nicht für eine Abtreibung entschieden und ihn so ungefragt zum Vater gemacht habe - was er nie sein wollte. In seinen Gesprächen mit Fera, dem geheimnisvollen Mädchen aus der Zukunft, spricht sich Hans Petter Mut zu und eines Tages bricht es aus ihm heraus.

Der Tag wird kommen bringt viele Themen ins Spiel: Erwachsenwerden, Mobbing, Gewalt, die Probleme einer Patchwork-Familie. In Feras Berichten aus der Zukunft geht es außerdem um den Umgang mit der Natur und den Mitmenschen, um die ideale Gesellschaft und darum, was aus der Welt, in der Hans Petter lebt (in der auch der Leser lebt) wird/wurde. Dabei ist der Erzählstil teilweise sehr belehrend.
Der Protagonist Hans Petter wirkt über weite Strecken unsympathisch und arrogant, was in seiner Opferrolle teilweise unverständlich scheint.
Obwohl der Roman weitgehend vorhersehbar wirkt, sollte man ihn in jedem Fall bis zum Ende lesen, da erst dann sein eigentlicher Wert offenbar wird.



Doch die Vermutung, Hans Petter werde in der Schule ein Blutbad anrichten, sich an Lehrern und Schülern für seine Leiden rächen, bewahrheitet sich nicht. Vergeblich wartet man auf die ach so vorhersehbare Rache an Andreas. Stattdessen lässt Hans Petter seine aufgestaute Aggression an Gunnar aus: Als dieser ihn wieder einmal vor der Klasse zum persönlichen Gespräch nach dem Unterricht einlädt, dreht der Schüler den Spieß um und stellt den Freund seiner Mutter bloß. Auf's Unflätigste beschimpft er ihn, fordert seine Mitschüler auf, auf ihre Mütter zu achten und gibt ihm den Spitznamen "Pervo-Gunnar", der in der Schule bald in aller Munde ist. Dieser Ausbruch bringt Hans Petter Andreas' Wohlwollen ein, ohne darauf abgezielt zu haben. Der einstige Feind präsentiert sich nun als Mitstreiter und Freund. Andreas stachelt Hans Petter noch am selben Tag zu einer Schmier-Aktion im Konferenzzimmer an: "Pervo-Gunnar ist scharf auf deine Mutter, deine Tochter und deine Hündin. Verrammelt die Türen und seid wachsam!", schreibt er an ein Plakat, das Andreas dann an die Pinnwand heftet.
Von da an leben die beiden in einer fragwürdigen Symbiose. Andreas spielt sich als Freund auf, nutzt Hans Petter jedoch im Grunde als Werkzeug aus, um den  unliebsamen Lehrer Gunnar fertig zu machen. Hans Petter hat das gleiche Ziel und fühlt sich durch Andreas endlich stark genug. Während Andreas Gunnar erst verprügeln will, überzeugt Hans Petter ihn schnell davon, den Freund seiner Mutter psychisch zu attackieren und sein Leben zu ruinieren: Er will den Vertrauenslehrer als Pädophilen hinstellen und ihn so zerstören. Bestärkt von Andreas und seinen Kumpels ist er es schließlich auch, der die Tat durchführt, obwohl er dabei bereits an seiner Idee zweifelt.

Der Roman endet mit einer E-Mail von Fera, der es inzwischen gelungen ist, Hans Petter davon zu überzeugen, dass die Welt in der sie lebt, über 300 Jahre in der Zukunft liegt. Sie gesteht ihrem Freund aus der Vergangenheit, dass sie ihn ganz bewusst kontaktiert hat und eine Freundschaft mit ihm nie beabsichtigt war. Sie schreibt ihm, dass der Diktator, der die Menschheit in seinem Krieg beinahe vernichten wird, er ist und dass Andreas ihm dabei zur Macht verhelfen wird. Dann bricht sie den Kontakt zu Hans Petter ab.

Erst im Anschluss an die Lektüre lässt sich die eigentliche Handlung überblicken: Beschrieben wird nicht ein Mobbing-Fall, sondern die Entwicklung einer Persönlichkeit - einer Persönlichkeit, die in ihrer Grausamkeit so weit geht, den Planeten Erde beinahe zu zerstören. Fera nennt den Diktator "ein[en] abgrundtief böse[n] Mensch[en]" (S. 238), der Leser kann das Böse, das in Hans Petter schlummert, nur erahnen. Wie verlockend diese Macht, die Fera ihm vorausgesagt hat, für das ehemals gepeinigte Mobbing-Opfer ist, lässt Nina Vogt-Østli offen und lässt somit Raum für Spekulationen, die sicher auch den Deutschunterricht bereichern können.

"Ganz langsam beginnt sich eine Ruhe in mir auszubreiten.
Ich weiß, wer ich bin.
Ich habe Fera verloren. Aber die Zukunft gehört mir." (S. 240)

Mittwoch, 26. März 2014

Hallo Leser!

Grafik erstellt auf www.letterjames.de
Ein Blogprojekt zu starten ist schon etwas aufregend!

Zu Beginn möchte ich mich kurz vorstellen: Ich bin eine junge Deutschlehrerin aus Oberösterreich. Nach dem Studium in die Schule einzusteigen ist nicht ganz leicht, denn viel von dem, was man dort unterrichten soll, ist Neuland. "Junge" Literatur zum Beispiel. Also lese ich momentan in erster Linie Jugendbücher und habe meistens meine Schüler, die zwischen 14 und 20 Jahre als sind, im Kopf.

Da ich selbst für jeden Tipp von Kollegen dankbar bin und mich gerne über Gelesenes austausche, habe ich bald die Idee geboren, dies doch auf das Internet auszuweiten. Mein Plan ist, Rezensionen und Buchtipps zu veröffentlichen, Links und Erfahrungsberichte zu Unterrichtsmaterialien zu "sharen" (wie man heutzutage so schön sagt) und eine Plattform zum Austausch für Leser anzubieten.

Da ich dieses Jahr mit einer Klasse zur Meinungsrede gearbeitet und immer wieder gefragt habe "Welches Publikum willst du ansprechen?", stelle ich mir diese Frage nun selbst.
Es geht mir nicht darum, mich mit anderen Lehrern zusammenzurotten, jeder ist willkommen! Ich fände es auch schön, wenn Schüler unter meinen Lesern wären! Schließlich verfolge ich ja das Ziel, die Freude am Lesen weiterzugeben. Aufgrund meiner momentanen Situation denke ich aber besonders an jene, die sich als Junglehrer oder "Unterrichtspraktikanten" in Sachen Lesestoff etwas verloren fühlen.


Hier könnte das Ende der Welt sein


John Corey Whaley, Hanser 2014


Quelle: Hanser Literaturverlage

Cullen und Gabriel Witter sind Brüder. Sie leben in Lily, einer typisch amerikanischen Kleinstadt in Arkansas, in der so wenig passiert, dass die angebliche Sichtung eines als ausgestorben geltenden Lazarus-Spechtes die Einwohner in helle Aufregung versetzt. Die beiden Teenager und ihr bester Freund Lucas zeigen sich davon wenig beeindruckt. Gerade haben die Sommerferien begonnen, es sind die letzten Monate, bevor für Cullen, der gerade die High School beendet hat, ein neuer Lebensabschnitt beginnen soll. Doch noch bevor er sich ernsthafte Gedanken über seine Zukunft machen kann, verändert sich Cullens Leben schlagartig: Sein jüngerer Bruder Gabriel verschwindet spurlos.




Der Leser begleitet die Familie Witter durch Wochen der Trauer und der Angst, in denen die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Gabriel immer mehr schwindet. Cullen ist hin- und hergerissen zwischen diesem Mikrokosmos, in dem sich auch für ihn alles um seinen Bruder dreht, und seinem Teenagerleben, in dem er mit Mädchen ausgeht, mit Lucas Momente der Freundschaft und der Erinnerung an schöne Zeiten erlebt und in dem er sich für ein College entscheiden soll. Seine Heimatstadt befindet sich währenddessen im Specht-Wahn. Der Hype um das als ausgestorben geltende Tier steht der Suche nach Gabriel, bei der die Witters auf sich allein gestellt scheinen, grotesk gegenüber.

Parallel dazu wird eine Geschichte erzählt, die scheinbar in keinem Zusammenhang mit der der Witters in Lily, Arkansas steht: Ein junger Gläubiger, der 17-jährige Benton Sage, reist nach Afrika, um dort die Botschaft des Herrn zu verbreiten. Doch es läuft nicht nach seinen Vorstellungen und er bricht die Missionsreise ab und beginnt zu studieren. Am College beschäftigt er sich intensiv mit dem Buch Henoch, einer apokryphen Schrift des Alten Testaments, die er in Äthiopien kennen gelernt hat. Nach seinem Selbstmord führt sein Mitbewohner, Cabot Searcy, Bentons Recherchen fort und wird mit der Zeit völlig besessen von dem Inhalt des Buches.

Mit Hier könnte das Ende der Welt sein liefert John Corey Whaley eine berührende Geschichte über einen 17-Jährigen, der versucht, sich nach dem Verschwinden seines geliebten Bruders in seinem Leben zurechtzufinden. Einem Leben, in dem der Vater eine Hellseherin ins Haus bringt und auf ihren Hinweis hin nach der Leiche seines Sohnes gräbt. Einem Leben, in dem die Mutter sich im Zimmer ihres Jüngsten einschließt und dessen Musik hört und den Kontakt zu ihrer Schwester abbricht, als diese sagt, sie stelle sich Gabriel im Himmel vor. Einem Leben, in dem Cullen von seiner Freundschaft mit Lucas gestützt wird, sich verliebt und abseits der Sorge um seinen Bruder durchaus schöne Teenager-Momente erlebt.
Doch Whaleys erstes Buch ist mehr als ein reiner Jugendroman. Der Autor versteht es, auf unterschiedlichen zeitlichen Ebenen eine Geschichte zu erzählen, die nicht vorhersehbar ist und bis zum letzten Satz überrascht und die man trotz des bedrückenden Inhalts als positiv empfindet.