Jamie Ford, Bloomsbury 2014
Vorsicht, manche könnten diese Rezension als
Spoiler auffassen! Die wenigen Angaben, die gemacht werden, sind jedoch meiner
Ansicht nach notwendig, um den Charakter des Romans zu beschreiben.
William Eng lebt in einem Waisenhaus im
Seattle der 30er Jahre. Manche der Kinder werden adoptiert, andere - wie den asiatischen
Jungen William - will niemand aufnehmen. Es ist die Zeit der Wirtschaftskrise, Rassendiskriminierung ist an der Tagesordnung. In den Kinos und Theatern
treten jedoch bereits auch Schwarze auf - und die Asiatin Willow Frost.
Eben
diese sieht William, als er mit den anderen Jungen des Waisenhauses einen Film
ansehen darf, und ist überzeugt, dass es sich bei der Schauspielerin um seine
Mutter handelt. Das Wissen, dass seine Mutter längst tot ist, kann ihn von
dieser fixen Idee nicht abbringen. Gemeinsam mit seiner blinden Freundin
Charlotte nimmt er heimlich Reißaus, um seine vermeintliche Mutter, die mit
einer Künstlergruppe gerade in der Stadt gastiert, zu finden.
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Bei einem Zusammentreffen am Bühnenausgang
stellt sich - für mich etwas unerwartet - heraus, dass es sich bei der
Schauspielerin Willow Frost tatsächlich um Williams Mutter handelt.
Nachdem ich Klappentext und Leseprobe gelesen
hatte, erwartete ich mir eine Geschichte à la "Gottes Werk und Teufels
Beitrag", in der ein Waisenjunge loszieht, um die Welt kennen zu lernen.
Doch mit dem Auftritt der Mutter nimmt der Roman eine jähe Wende: Jamie Ford
springt in die beginnenden 20er Jahre zurück und erzählt das Leben von Liu
Song Eng, dem Mädchen, aus dem einmal die große Schauspielerin werden soll. Es
ist eine Leidensgeschichte, die Liu Song durchläuft, ein Schicksalsschlag folgt
dem anderen. Als Leser fragt man sich unweigerlich, wie viel Unglück einem
Menschen noch geschehen kann.
Obwohl ich mich auf eine Jungengeschichte
gefreut hatte, war die Lektüre von "Die chinesische Sängerin" keine
Enttäuschung. Jamie Ford schafft es, geschichtliche und gesellschaftspolitische
Inputs in seinen Roman einfließen zu lassen, ohne dass man als Leser den
Eindruck gewinnt, vom Autor belehrt zu werden (ein Umstand, den ich übrigens beim Lesen gar nicht mag). Gleichzeitig lässt er genügend Lücken, die von Leser
zu füllen sind, sodass man sich gedanklich mit der Handlung auseinandersetzen
muss/kann.
Im Voraus habe ich mir gedacht: "Hurra!
Kein typisches 'Frauenbuch'!". Nun bin ich mir nicht sicher, ob die
Tatsache, dass es vornehmlich um Liu Song und ihre Transformation zu Willow
geht, den Roman zu einem "Frauenbuch" macht oder nicht. Nimmt man die
weibliche Hauptfigur sowie die Möglichkeit der Identifikation mit dieser als
Kriterium, dann muss diese Frage wohl mit Ja beantwortet werden. Was Jamie
Fords Roman in keinem Fall ist: Ein bla-bla-Buch, das man halb konzentriert
liest, während der Mann Fußball schaut, weil es einen im Grunde kalt lässt.
"Die chinesische Sängerin" berührt. Im Innersten.
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